Marie Josenhans

Stuttgart
Württembergische Bürgerpartei
1919-1926

Marie Josenhans (1855-1926)

Ehrenamtliche Armenfürsorgerin, Sozialpolitikerin, Autorin und eine der ersten vier weiblichen Gemeinderäte von 1919-1926 in Stuttgart.

Die am 14. 11.1855 in Stuttgart geborene jüngste Tochter des vermögenden „Rothgerber“-Meisters Johannes Daniel Josenhans und seiner zweiten Frau Christine geb. Hitzelberger wuchs mit fünfzehn Geschwistern aus zwei Ehen ihres Vaters in einer großen mittelständischen Familie im großbürgerlichen, mehrstöckigen Elternhaus mit einem weitläufigen Garten in der Olgastraße 55 oberhalb des Bohnenviertels auf. Hier blieb sie mit einigen ihrer Geschwister und deren Familien lebenslang wohnen. Ihre Mutter stammte aus einer Metzgersfamilie in Möhringen auf den Fildern. Als Fünfzehnjährige hat sie ein halbes Jahr nach ihrer Konfirmation und innerhalb von anderthalb Jahren zuerst den Vater, dann die Mutter und darauf eine Schwester verloren. J. und ihre Geschwister waren schon davor von einer Nanny betreut worden und standen sich nun gegenseitig zur Seite.

Ihre Ausbildung hat sie nach der Volksschule in einem Pensionat am Genfersee bekommen. Sie erhielt auch Klavier- und Gesangsunterricht bei einem Opernsänger. Als überaus Begabte und anmutige Erscheinung hat sie im Stuttgarter Königsbau Konzerte gegeben, Anerkennung und Aufsehen erfahren.

Nachdem sie eine Verlobung mit einem jungen Offizier der Olgagrenadiere aufgelöst hatte, blieb sie unverheiratet, war jedoch immer in ihrer großen Familie als geschätzte und zugewandte Tante und im gesellschaftlichen Leben Stuttgarts als bekannte Persönlichkeit tief verankert. Sie begann um 1890 ehrenamtlich für den Leonhardsgemeindeverein Kinder, Kranke und alte Menschen im Stuttgarter Bohnenviertel zu betreuen. Deshalb war sie bald unter dem Namen „Engel des Bohnenviertels“ eine bekannte Größe. Zur Unterstützung von bedürftigen Familien richtete sie in ihrem Elternhaus eine Kleider- und Möbelkammer und eine Wohnungs- und Arbeitsvermittlung ein. Auch in der Leonhardskrippe arbeitete sie mit. Diese vom Leonhardsgemeindeverein neu gebaute Ganztageseinrichtung zur Betreuung von Kindern wurde 1913 eröffnet. 60–115 Kleinkinder wurden dort betreut. Diese Einrichtung gibt es heute immer noch.

Das Wohnviertel J.‘s hatte damals noch einen ländlichen Charakter. In Stuttgart lebten um 1870 rund 70.000 Einwohner, von denen eine gute Hälfte Frauen waren. Im Zuge der Industrialisierung mit allen ihren Schattenseiten und größeren Bauvorhaben veränderte sich in den Gründerjahren der kleinstädtische Zuschnitt der Stadt: Aus der Kleinstadt Stuttgart wurde eine Großstadt mit Kleinstadtcharakter. Die bisherigen Wohn- und Arbeitsverhältnisse veränderten sich. Frauenvereine aller Couleurs entstanden und nicht nur frauenbewegte, sich emanzipierende Mitbürgerinnen erprobten ihren Weg zu Gleichberechtigung. Die Mitgliedsfrauen des 1873 gegründeten Schwäbischen Frauenvereins sahen ihre Aufgabe darin, Frauen zu Berufen mit Verdienst auszubilden und Ehrenamtlichkeit soweit wie möglich zu verhindern. Mit einer verbesserten Bildung und Ausbildung der weiblichen Bevölkerung sollten gleichberechtigte gesellschaftliche Verhältnisse befördert werden.

Frauenerwerbsarbeit war indes nur als Zuverdienst zum Einkommen des Ehemannes gedacht. Deshalb konnten Witwen und ledige Frauen mit ihrer Erwerbsarbeit nie ihre Existenz sichern. Sie lebten zumeist in Armut, versuchten zum Beispiel Miete einzusparen, indem sie mit anderen Frauen eine Unterkunft teilten. Für die stetig anwachsende Zahl der noch nicht gesetzlich in ihren Arbeits- und Verdienstverhältnissen abgesicherten Arbeiterinnen wurde die organisierte Arbeiterinnenbewegung, die Ende des 19. Jahrhunderts entstand, wichtig und überlebensnotwendig. Die Veränderungen der Arbeitswelt durch die Industrialisierung bedeutete für die arbeitende Bevölkerung oft eine Verschlechterung ihrer Lebensverhältnisse und eine zunehmende Verelendung, die besonders den großen Teil der erwerbstätigen Bevölkerung und ihre Familien aus der Unterschicht betraf.

Marie Josenhans handelte und arbeitete im Selbstauftrag und später auch als öffentliche Armenfürsorgerin der privaten, aber unzulänglichen Armenfürsorge pragmatisch und mit persönlicher körperlicher Anstrengung an einer lokalen Linderung des Elends. Die Vornehmheit ihres Auftretens und ihre herzliche entgegenkommende Art machten sie zum mildtätigen „Herzen“ des Armeleuteviertels, ihr unverdrossener Lebensmut steckte an, ihr Durchhaltevermögen schuf Vertrauen.

Seit 1906 veröffentlichte J. einfühlsam humorig geschilderte Geschichten über die Menschen und Einzelschicksale, mit denen sie im Bohnenviertel vertraut war und die sie umsorgt hat. Unter dem Titel „Meine alten Weiblein“ erschien es zuerst im Selbstverlag unter den Initialen „M. J.“ und dann in dieser Form in mehreren Auflagen. Ab 1922 wurden ihre Geschichten im Quellverlag mit einem Vorwort der Schriftstellerin Auguste Supper veröffentlicht, die hier J.M. als Verfasserin nannte. 1910 kam noch ein dritter Band hinzu: „Meine kleinen Freunde“. J. konnte mit diesen Veröffentlichungen Spenden und testamentarisch verfügte Nachlässe für ihre soziale Arbeit einspielen. Dem „Fräulein Marie Josenhans“ wurden nicht selten zum Beispiel Beträge von 5.000 Mark zur Almosenverteilung an die Stuttgarter Stadtarmen überschrieben. Wichtig war auch, dass der württembergische König Wilhelm II. und seine zweite Gemahlin Königin Charlotte zu den Lesern und Spendern gehörte. Die Königin war sogar in Begleitung einer Hofdame durch das Bohnenviertel gegangen, um sich selbst ein Bild von den hier herrschenden Zuständen und den Bewohnern und Bewohnerinnen der Armenhäuser und ihrem Elend zu machen. Sie unterstützte so die mildtätige Arbeit J.‘s und spornte damit auch die Spendenfreudigkeit von Geldgebern an.

Am 12. November 1918 wurde nach Beendigung des 1. Weltkriegs und dem Ausrufen der deutschen Republik durch den Rat der Volksbeauftragten des „Arbeiter und Soldatenrates“ in Berlin das allgemeine Wahlrecht für Männer und Frauen ab einem Alter von 20 Jahren zum Bestandteil der deutschen Demokratie bis heute.

Am 30. November 1918 war das Königreich Württemberg im Zuge der Ereignisse der Novemberrevolution in den deutschen Ländern, nach dem Verzicht König Wilhelms II. auf die Krone (Revolutionäre hatten seine Residenz im Wilhelmpalais gestürmt) zum Freistaat Württemberg innerhalb der Weimarer Republik geworden. Am 26. April 1919 gab sich das Land eine neue Verfassung, die in überarbeiteter Form endgültig am 25. September 1919 von der verfassungsgebenden Landesversammlung verabschiedet wurde. Zum ersten Mal in der württembergischen Geschichte wirkten dabei dreizehn weibliche Landtagsabgeordnete mit.

Frauen durften jetzt wählen. Das war nur eine der vielen politischen Veränderungen, die das Jahr 1918 brachte. Die junge Weimarer Republik hatte neue demokratische Ziele, und mitten in dieser auch politisch schwierigen Zeit des Umbruchs hatten Politikerinnen, die lange für ihr Recht auf Mitbestimmung gekämpft hatten, jetzt die Möglichkeit, aktiv an der Gestaltung der politischen Gegenwart teilzunehmen. J. war von der DNVP für den Stuttgarter Gemeinderat auf deren Liste gesetzt worden und wurde als eine von vier Frauen unter 65 Stadträten im Jahre 1919 gewählt - dem Jahr, in dem die Frauen zum ersten Mal das gleiche, geheime, direkte und allgemeine Wahlrecht ausüben durften. Die konservativ königstreue J., für die auch mit den durchlittenen Kriegswirren, den Entbehrungen und politischen Brüchen ihre Welt und die bisherige Weltordnung zusammengebrochen war, ist nun eine von vier Frauen - darunter die bei der Firma Daimler arbeitende kaufmännische Angestellte Charlotte Armbruster, 1886-1970 (Zentrum), die Vorsitzende der Württembergischen Frauenvereine Ella Ehni, 1875-1952 (DDP) und die Pfarrerswitwe Josefine Giese, 1896-1926 (Württembergische Bürgerpartei) - unter 65 Stadträten, die im Jahre 1919 als Mitglied der Württembergischen Bürgerpartei in das Amt einer Stadträtin gewählt wurde. Die Württembergische Bürgerpartei war der württembergische Landesverband der konservativen deutschen Volkspartei (DNVP). J. konnte mit Unterstützung ihrer Partei erreichen, dass die Armenfürsorge als öffentliche Aufgabe anerkannt wurde und Gelder bereitgestellt wurden. Ausdauernd und sozial engagiert, hat J. in Männergremien mitgewirkt. Die jedoch immer stärker werdende Abwertung der in der Ratsversammlung sitzenden Politikerinnen durch die männliche Übermacht und die sich zuspitzende politische Missachtung hat sie hingenommen. Bis zu ihrem Tod am 23.3.1926 blieb sie trotz ihrer sich verschlechternden Herzinsuffizienz zusammen mit ihren Gemeinderatskolleginnen das für soziale Verbesserungen engagierte Gewissen des Stuttgarter Gemeinderats. Sie war neben der Arbeit in den zahlreichen Sitzungen des Gemeinderats und in vielen sozialengagierten Vereinen, in die sie berufen worden war, weiterhin unermüdlich in den Armenhäusern des Bohnenviertels unterwegs.

Parallel zum aktiven und passiven Wahlrecht für Frauen im Staat wurde auch in der württembergischen Landeskirche der neuen Verantwortung der Frauen Folge geleistet: Als erste Frau wurde J. in den Kirchengemeinderat der evangelischen Leonhards-Gemeinde gewählt und wurde auch als Schöffin in die Zentralleitung für Wohltätigkeit berufen.

Marie Josenhans ist mit 70 Jahren an ihrem Herzleiden gestorben und wurde auf dem Stuttgarter Pragfriedhof begraben. Ort und Zeit der Beerdigung waren nicht bekannt gegeben worden, dennoch gaben ihr Hunderte von Menschen das letzte Geleit. Ihre von der Stadt Stuttgart finanzierte Grabstelle ist als erhaltenswert eingestuft.

Im Stuttgarter Stadtbezirk Weilimdorf wurde 1938 die Josenhansstraße nach ihr benannt. Das Bestreben, eine Straße im neu gebauten und 2017 eröffneten Stuttgarter Dorotheen Quartier - gegenüber des Bohnenviertels gelegen - nach ihr mit ihrem vollständigen Namen zu benennen, scheiterte. Beim Erinnerungsort Hotel Silber, wurde 2017 jedoch die Else-Josenhans-Straße eingeweiht. Else hatte als Jüdin zusammen mit ihrer Familie in der Zeit des Nationalsozialismus alle Persönlichkeits-, Lebensrechte und ihr Leben verloren.

Mascha Riepl-Schmidt

Nachweis

Gekürzte Version einer für die Landeskundliche Geschichtskommission Baden-Württemberg von der Autorin erarbeiteten Biographie.

Bildnachweis: Wlb Stuttgart, Signatur Port. 01769.josen 1.jpg


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