Herta Wittmann

Ulm
1947-1960
FDP

Erste Stadträtin nach dem zweiten Weltkrieg

Herta Wittmann

geborene Schmid, 1913-1960

„Als Mitglied im Bauausschuss hatte ich Gelegenheit, die Zukunft der Stadt Ulm mitzugestalten.“

Die Kindheit im Pfarrhaus von Seißen

In einem altehrwürdigen Pfarrhaus in Seissen wurde Herta Schmid am 21. März 1913 geboren. Ihr Vater, der Pfarrer Eugen Schmid, hatte die Stelle im Jahr 1910 angetreten. Beide Eltern waren echte Ulmer und kamen aus großen Familien.

Nacheinander wurden den Pfarrersleuten sechs Kinder geboren, drei Mädchen und drei Buben. Herta stand an zweiter Stelle in der Reihe ihrer Geschwister. Drei Jahre lang besuchte sie die Grundschule in Seissen. Danach hieß es, täglich vier Kilometer in die Lateinschule nach Blaubeuren zu marschieren. Herta machte diesen Weg hin und zurück zusammen mit ihrer älteren Schwester und fand dies ganz normal.

Mädchenjahre in Ulm

Im Jahr 1924 zog die Familie nach Ulm. Der Vater hatte sich mit Erfolg um die Pfarrstelle an der Dreifaltigkeitskirche beworben. Herta kam im Humanistischen Gymnasium – dem heutigen Humboldt-Gymnasium – in die zweitunterste Klasse. Mit der Mittleren Reife beendete sie dort auch ihre Schulzeit, weil es damals absolut nicht üblich war, dass Mädchen Abitur machten. An zwei Jahre im Haushalt der Mutter schloss sich für sie, auch durchaus im Zuge der Zeit, der Besuch der Frauenarbeitsschule an. So wurden die Mädchen sehr zielstrebig auf die Rolle der Hausfrau und Mutter vorbereitet. Im Pfarrhaus bei der Dreifaltigkeitskirche war inzwischen ein Vikar eingezogen. Er hieß Herbert Wittmann, und ihm gefiel die Pfarrerstochter so gut, dass er um ihre Hand anhielt. Wenig später, man schrieb das Jahr 1933, wurde Vikar Wittmann Pfarrer in Böhringen im Dekanat Urach. Herta brach eine kurz zuvor begonnen Ausbildung zur Fürsorgerin ab, denn die Böhringer wollten eine Pfarrfrau, am liebsten aber eine Pfarrfamilie haben.

Im Jahr 1934 wurde die Hochzeit gefeiert, und sie zog, gerade 21 Jahre alt, als Pfarrfrau auf die Schwäbische Alb.

Pfarrfrau in Böhringen

Zu den Aufgaben der Pfarrfrau gehörten Besuche bei Kranken und Alten und natürlich bei jeder Wöchnerin. Außerdem war eine wöchentliche Bibelstunde für Frauen zu halten. Zwar brachte Herta Wittmann aus ihrem Elternhaus einen ordentlichen Fundus an Bibelkenntnis mit. Aber sie war sich klar, dass ihr etliche der pietistischen Böhringerinnen darin weit überlegen waren. In Böhringen wurden in sechs Ehejahren vier Kinder geboren. Elsbeth 1935, Ursula 1937, Albrecht 1939, und schließlich, im Jahr 1940 die jüngste Tochter, Margarete.

Die Hitlerzeit und der Krieg

Der junge Pfarrer Wittmann hatte sich aktiv für die „Bekennende Kirche“ eingesetzt. Die Folge davon war – so ist zu vermuten – dass er schon zehn Tage vor Beginn des Krieges, 1939, eingezogen wurde. Dies war bei jungen Familienvätern und auch bei Pfarrern zu Kriegsbeginn nicht üblich. Der Uracher Dekan wollte ihn daher vom Wehrdienst befreien lassen. Aber Herbert Wittmann hielt es für seine Pflicht, genau wie die jungen Männer seiner Gemeinde, den „Dienst am Vaterland“ zu tun. In seinem letzten Urlaub taufte er seine jüngste Tochter Margarete und stand an diesem Sonntag auch zum letzten Mal auf der Kanzel in Böhringen.

Wieder an der Front geriet er 1940 in Frankreich in die erste Schlacht, die große deutsche Verluste forderte. Eine Kugel durchschlug seinen Helm und beendete sein Leben.

Rückkehr nach Ulm

Es ist heute schwer zu begreifen, was dieser Tod für Herta Wittmann bedeutet hat. Nach kaum sechsjähriger Ehe wurde ihr der Lebenspartner entrissen, und sie war – gerade 27 Jahre alt – allein mit ihren vier Kindern, die jüngste Tochter soeben getauft, die älteste noch einmal in der Schule.

Nun musste das Haus für den Nachfolger frei gemacht werden. Gerne wäre Herta Wittmann mit ihren Kindern in Böhringen geblieben, doch in den Dörfern gab es damals Bauernhäuser, aber keine Mietwohnungen. Da lag es nahe, in die Heimatstadt Ulm zurück zu kehren. Die Ideologie des Dritten Reiches, die Kinderreichtum mit Mutterkreuzen belohnte und den Heldentod glorifizierte, verhalf ihr zu einer schönen und geräumigen Wohnung am Staufenring. Da Pfarrer Wittmann nur 10 Jahre im Dienst seiner Landeskirche gestanden hatte, erhielt Frau Wittmann die geringstmögliche Pension.

Nun zeigte sich, dass einst der Abbruch der Berufsausbildung ein Fehler gewesen war. Jetzt wäre die Aufnahme einer eigenständigen Berufstätigkeit nicht nur möglich, sondern auch dringend nötig gewesen. Aus dieser Erfahrung heraus riet die Mutter ihren Töchtern später eindringlich: „Ihr macht zuerst eine Ausbildung fertig, und dann kann geheiratet werden.“ Herta Wittmann gehörte nun zu der in diesen Kriegsjahren immer größer werdenden Gruppe der allein erziehenden Mütter. Die Arbeit wurde mit jedem Jahr umfassender, da schon allein die Beschaffung des täglichen Bedarfs eine schwierige Aufgabe darstellte. Für die Erziehung der Kinder hatte sie eine geschickte Hand. Konsequenz galt ihr viel, Abmachungen mussten eingehalten werden, wer gegen Regeln verstieß, musste möglichst die Folgen auch selbst tragen. Dennoch wussten die vier, dass sie jederzeit mit allem zur Mutter kommen konnten, und besonders guten Zugang hatte die Jüngste, die so manches durchsetzen konnte, was den älteren Geschwistern nicht erlaubt worden war.

Die Familie im Bombenkrieg

Die Kinder waren alle noch klein, als fast in jeder Nacht die Sirenen heulten. Das hieß, bei jedem Luftalarm die Kinder aus dem Schlaf reißen, ihnen irgend etwas Warmes über zu streifen, und sie so rasch wie möglich in den Luftschutzkeller zu bringen. Die Kinder konnten im Keller manchmal weiterschlafen und spürten so die Sorge der Erwachsenen nicht, denn der Mutter gelang es, trotz allem Ruhe auszustrahlen. Bei einem Tagesangriff, am 1. März 1945, war auch das Haus im Staufenring durch zwei Brandbomben getroffen worden, doch konnten Herta Wittmann und ihr Vater den Brand wieder löschen, ehe er großen Schaden anrichtete.

Wenige Wochen zuvor, am 17. Dezember 1944, war die Stadt durch einen unvorstellbaren Angriff der alliierten Bomber nahezu total zerstört worden.

Auch die Dreifaltigkeitskirche wurde ein Raub der Flammen. Als Pfarrer Schmid dort den Brand lodern sah, eilte er sofort, um zu retten, was noch zu retten war. Dabei bemerkte er viel zu spät, dass auch das Pfarrhaus im „Grünen Hof“ lichterloh brannte und das Feuer bis auf die Grundmauern alles restlos zerstörte. In der geräumigen Wohnung im Staufenring konnten die Großeltern mit einziehen, und das Pfarrbüro war auch noch unterzubringen, denn Pfarrer Schmid wurde, nachdem von seiner Kirche nur noch die Außenmauern in den Himmel ragten, als Seelsorger an die Pauluskirche versetzt, wo er bis zu seiner Pensionierung tätig war. Es war ein „Haus der offenen Tür“, und die Zahl der Durchreisenden, die anklopften, war beträchtlich. Möglicherweise gab es im Eingangsbereich einen Zinken, der bedeutete: „Hier gibt es um die Mittagszeit eine Suppe.“

Wenn man nun die Frage stellt: Was hat der unselige Krieg allein dieser Familie angetan? So kommt man zu einem erschreckenden Ergebnis.

Vier kleine Kinder haben ihren Vater verloren, ehe sie ihn richtig kennen lernen konnten. Herta Wittmann ist in jungen Jahren Witwe geworden, wobei ihr nicht nur der Partner entrissen wurde, sondern auch ein wichtiges Stück ihres Lebensentwurfes, denn sie war Pfarrfrau geworden mit der Absicht, im Beruf ihres Mannes mit zu arbeiten. Zwei ihrer Brüder sind ebenfalls gefallen, und der dritte wurde schwer verwundetet. Die Eltern verloren bei dem Luftangriff im Dezember 1944 ihr ganzes Hab und Gut, die Häuser der Großeltern wurden völlig zerstört. Die Heimatstadt Ulm war in ein riesiges Trümmerfeld verwandelt.

Nachkriegszeit

Mit dem Kriegsende, im Mai 1945, hörte das Töten und Zerstören auf, aber die Sorge um den täglichen Bedarf entwickelte sich immer dramatischer. Um im Winter heizen zu können – in der Regel ein einziges Zimmer in der Wohnung – musste mit dem Handwagen das spärlich zugeteilte Brennmaterial, Holz oder Kohlen, herbeigeschafft werden. Für Familien mit vier Kindern gab es eine Holzzuteilung der Stadt. Als der Beamte, der den Berechtigungsschein ausgab, spöttisch darauf hinwies, die Bäume stünden aber noch in Herrlingen im Wald, antwortete ihm Frau Wittmann ärgerlich: „Wie ich es organisiere, das Holz zu fällen und zu transportieren, ist meine Sache. Von Ihnen brauche ich nur den Schein“.

Von vielen Hausfrauen, besonders von den Müttern, die damals fast ausnahmslos unterernährt waren, wurde Unglaubliches gefordert.

Herta Wittmann wird Stadträtin

Im Jahre 1947 wurden die ersten Wahlen zum Stadtrat vorbereitet. Es wurden Listen zu dieser Wahl aufgestellt mit Bürgern, die durch das 3. Reich unbelastet und von den Amerikanern akzeptiert waren. Als Professor Wild, damals Leiter des Humanistischen Gymnasiums, bei Herta Wittmann anfragte, ob sie bereit sei, für die FDP/DVP zu kandidieren, sagte sie zu, weil sie keine Gründe sah, sich der Verantwortung für ihre Stadt zu entziehen. Etliche Jahre später fand man doch in der CDU-Fraktion, sie gehöre, als Pfarrfrau, doch in ihre Reihen. „Ihr habt mich nicht gefragt“, antwortete sie darauf. Sie blieb der FDP im Stadtparlament treu: liberal und christlich zugleich. Es hat ihr auch nicht gefallen, wie in der CDU damals mit den Frauen umgegangen wurde. So wurde z. B. erst im Jahre 1953 eine Frau für diese Partei in den Stadtrat gewählt.

Bis dahin war Frau Wittmann unter 36 Stadträten die einzige Frau am Ratstisch.

Die Arbeit im Stadtrat

Natürlich musste Frau Wittmann in dieser neuen Arbeit zuerst einmal Erfahrungen sammeln, und da war es gut, dass sie in Professor Wild einen klugen Mitstreiter und Berater hatte. Günstig war, dass sie Ulm und seine Bewohner bestens kannte. Bei der Suche nach Spuren ihrer Arbeit im Stadtarchiv stößt man darauf, dass es damals noch keine Wortprotokolle gab. Es scheint, als seien Stadträte, die sich an den Diskussionen beteiligten, nur zufällig ab und zu namentlich erwähnt. Drei verschiedene Sitzungsgruppen tauchen in der Berichterstattung immer wieder auf: Die Bauabteilung, die Wirtschaftsabteilung und die Hauptabteilung.

Zuerst arbeite Herta Wittmann in der Wirtschaftsabteilung mit, wechselte aber später in die Bauabteilung. Dort wurden Themen behandelt, die für diese Nachkriegszeit typisch sind:

Da ging es um den Wiederaufbau der Altstadt. Es musste ein Plan erstellt werden, der letztendlich wieder zu einem harmonischen Stadtbild führte. Ruinengrundstücke, die teilweise aus kleinsten Parzellen bestanden und womöglich noch in den Händen von Erbengemeinschaften lagen, mussten umgelegt werden. Ineinander verschachtelter Grundbesitz wurde neu geordnet, und beim Wiederaufbau von Privathäusern musste in vielen Fällen finanzielle Hilfe geleistet werden. Es ging um Baumaßnahmen für Schulen, um den Neubau des Schubart-Gymnasiums und um die Aufstockung der Pionierkaserne. Die Volksschule in Söflingen meldete immer wieder ihre Ansprüche auf Schulräume an, die nach der Zerstörung des Schwörhauses durch Klassen der Frauenarbeitsschule belegt worden waren und drängte sehr auf Rückgabe dieser Räume. Es gab Debatten um die Belegung von Kasernengebäuden und um die Unterbringung von Räumungsschuldnern.

Für die Industrieansiedlung im Donautal und die damit verbundenen Betriebsverlagerungen wurde ein Sonderausschuss gegründete, dem sie angehörte. Und: Es entstanden die ersten Pläne für den Bau der Neuen Straße. Fünfzig Jahre sind inzwischen vergangen, und wer im Jahr 2003 die Baustelle besichtigte, konnte noch die Grundmauern der Bäckerei Martin, die damals diesen Plänen sehr im Wege stand, bewundern.

Studienfahrt nach Amerika

In Amerika hatte man früh erkannt, dass es bei uns an der politischen Bildung haperte, und so gingen die Amerikaner mit fast missionarischem Eifer daran, den Deutschen beizubringen, was Demokratie bedeutete. Eine großartige Möglichkeit dazu bot die Einladung amerikanischer Kommunalpolitiker an ein Städteteam aus Ulm zu einer drei Monate dauernden Rundreise durch die Vereinigten Staaten.

Zwei Voraussetzungen machten es möglich, dass Herta Wittmann an dieser wichtigen Reise teilnehmen konnte: Frau Wittmann war nicht berufstätig und es gab in Böhringen eine treue Frau, die schon einst im Pfarrhaus geholfen hatte. Sie sorgte gerne für die Daheimgebliebenen. Die Kinder waren zu großer Selbstständigkeit erzogen worden, und nun waren alle vier tüchtig und in der Lage, das Leben eine Zeitlang auch ohne die Mutter zu meistern. Im Familienrat wurden die Aufgaben verteilt: Die siebzehnjährige Elsbeth bekam die Unterschriftsberechtigung für das Konto und musste das Geld verwalten, die nächste Tochter, Ursula war für den Haushalt und die dortige Planung zuständig und auch die beiden Jüngsten hatten ihre Aufgaben. Alle vier setzten ihren Ehrgeiz darein, keine Probleme zu schaffen. „Wir hielten zusammen wie Pech und Schwefel und haben weniger gestritten als jemals zuvor und danach.“

Und dies waren die Teilnehmer der Reisegruppe aus Ulm: Bürgermeister Dr. Hailer, Polizeirat Rall, Bibliothekar Wiegandt, die Dolmetscherin Feineis, Studienrätin Reying, Studienrat Brauner und die Stadträte Zeller und Fried. In Amerika aber freute man sich besonders, dass mit der Stadträtin Herta Wittmann auch eine Kriegerwitwe und Mutter von vier Kindern ins Land gereist kam. Am 3. September 1952 wurde die Reisegruppe mit „großem Bahnhof“ in Ulm verabschiedet. Neben vielen Familienangehörigen war der Oberbürgermeister, Theodor Pfizer gekommen, der Leiter des Amerikahauses, Mr. Lascoe samt seiner Gattin war da, und eine Musikkapelle sorgte für die entsprechende Aufmerksamkeit. Die Reise ging in den Staaten zunächst von New York nach Washington, wo die nötigen Wissensgrundlagen für das Verständnis dieses riesigen Landes gelegt wurden. Boston und der Michigansee waren die nächsten Stationen, und dann ging es weit hinüber an den Pazifischen Ozean, nach Berkeley und San Francisco in Kalifornien. Rochester war eine Station und wieder New York. Dazwischen fand in Minnesota ein längerer Aufenthalt in New Ulm statt. Es gab einige Besuche in den Südstaaten, dabei auch eine Zwischenstation in Texas, wo es, zum Erstaunen der Europäer, die Weite des Landes erforderlich macht, dass Farmer ein eigenes Flugzeug haben, um den Überblick über ihre Ländereien zu behalten. Mit Bussen, Pullman-Zug und Flugzeug wurde das riesige Land durchquert. Allein die Aufzählung der Sehenswürdigkeiten und beeindruckenden Landschaften zeigt, wie reichhaltig das Programm dieser Reise gestaltet war.

Herta Wittmann hat die Erlebnisse auf dieser langen Reise in einem Tagebuch festgehalten. Dort beschreibt sie auch ihre Verwunderung über die vielfältigen Möglichkeiten der Mitsprache und Mitwirkung ihrer amerikanischen Gastgeber in der Schule, in der Kirche, in vielen Bereichen der kommunalen Verwaltung. Sie schildert die Versammlung, an denen die Reisegruppe teilnehmen konnte, und wie dann in Vorträgen die dabei gemachten Beobachtungen untermauert wurden. Filme ergänzten, wo dies nötig war, die neuen Eindrücke. In den Berichten wird aber auch deutlich, dass Frau Wittmann damals aus einem Land kam, das sich soeben aus einer Diktatur und aus einer Trümmerwüste empor zu rappeln versuchte. Sie staunte über den Komfort, den sie z. B. in Privathäusern, Schulen und Krankenhäusern antraf. Niemand bei uns hätte sich zu diesem Zeitpunkt vorstellen können, wie rasch wir hier diesen Vorsprung einholen würden.

Wieder daheim

Wer nun erwartet hatte, die Begrüßung daheim sei mit ähnlichem Tamtam erfolgt wie der Abschied, sucht in den Protokollen des Stadtrates vergeblich nach einem Zeichen. Die Amerikareisenden waren einfach wieder da.

Und dennoch stößt man auf Spuren: Herta Wittmann hatte in Amerika den Straßenverkehr beobachtet, und als nun die Neue Strasse, also eine Verkehrsverbindung von der Glöcklerstraße bis zur Adlerbastei, wieder auf der Tagesordnung stand, setzte sie sich für deren Bau ein mit dieser Begründung: Es sei damit zu rechnen, dass auch bei uns der Autoverkehr anwachse, und dann brauche man in Ulm eine Ost-West-Verbindung, die geeignet sei, die Olga- und die Karlstraße zu entlasten, um diesen Verkehr zu bewältigen. Die Planung erwies sich jedoch als schwierig, da zunächst mit einer Baulandumlegung am Südlichen Münsterplatz – es ging dort hauptsächlich um Ruinenfelder – ein starker Einschnitt in die Grundstücksverhältnisse vorgenommen werden musste. Doch schließlich waren auch diese Hürden überwunden, und die Neue Strasse konnte gebaut werden.

In der Bauabteilung wartete noch eine Aufgabe auf die heimgekehrte Amerikafahrerin: Damit die Altstadt nach dem Wiederaufbau wieder ein Gesicht bekäme, wurde der Antrag auf Vorkaufsrecht der Stadt auf alle Ruinengrundstücke gestellt. Es musste nun geprüft werden, ob dies tatsächlich für alle Grundstücke gelten solle, oder nur für die, bei denen ein öffentliches Interesse bestehe. Nun wurde die Bildung die Bildung einer Kommission beschlossen, die sich mit diesen Fragen befassen sollte, und Herta Wittmann wurde in diese Kommission gewählt. Zur Meinungsbildung wurden Informationsfahrten in Städte unternommen, die ein ähnliches Problem hatten: Kirchheim, Esslingen und Stuttgart.

Im Januar 1953 gab es einige wichtige Beschlüsse zu fassen: Die Stadtsparkasse Ulm und die Kreissparkasse vereinigten sich zur Sparkasse Ulm. Das Hauptgebäude sollte auf dem Grundstück der ehemaligen Synagoge erstellt werden, was von Frau Wittmann in einer temperamentvollen Rede empört abgelehnt wurde. Die Pflegesätze in den Städtischen Krankenanstalten mussten um 6 % erhöht werden – und lagen damit sämtlich noch unter 10 DM! Bebauungspläne wurden beschlossen für den Bahnhofsvorplatz, die Blaubeurerstraße und die Olgastraße. Mit Neu-Ulm wurde ein Verkehrslinienvertrag abgeschlossen und es wird vermerkt, dass sich die Verhandlungen als sehr kompliziert erwiesen hätten. Es hatte sich nämlich gezeigt, dass die Beschädigung der Gleisanlagen der Straßenbahn in Neu-Ulm durch die Bombenangriffe so gravierend waren, dass an eine Wiederherstellung nicht zu denken war.

Es gab auch durchaus Erfreuliches: Der Neubau der Kinderkrippe in der Schillerstraße wurde eingeweiht, und man konnte sich ans Pläneschmieden für eine Festhalle machen.

Es wird berichtet, Herta Wittmann habe, wenn sie etwas für wichtig hielt, die Diskussion mit einem feurigen Redebeitrag beeinflusst. In den Protokollen des Jahres 1953 findet man zwar immer noch wenige Nachweise dessen, was denn im Rat der Stadt von den einzelnen Mitgliedern gesagt wurde. Gerade deshalb verwundert ein Eintrag über die Sitzung am 27.3.1953. Die damalige Situation stellt sich so dar: Nachdem das Steuerhaus – das Gebäude am Weinhof – nahezu fertig war, und die Frauenarbeitsschule hoffte, endlich aus der bedrängenden Lage in Söflingen heraus umziehen zu können, erklärte die Volksschule, dass ihr Raumbedarf noch gravierender sei als der der Frauenschule. In die neuen Räume sollten also jetzt Klassen der Volksschule einziehen.

Offensichtlich hat daraufhin eine Sitzung des Ortsschulrates stattgefunden, zu der allerdings der Oberbürgermeister nicht geladen war, und in deren Verlauf der Vorwurf erhoben wurde, Ulm sei frauenfeindlich, wogegen sich hernach Oberbürgermeister Pfizer energisch wehrte.

In der nun folgenden Sitzung hielt Frau Wittmann eine Rede, die gegen alle Gepflogenheiten so in den Protokollen aufgezeichnet ist:

Es sei ein Fehler gewesen, dass die Schulleiterin, Fräulein Schmid, die Stadtverwaltung nicht zur Sitzung des Ortsschulrates geladen habe. Doch diese Schulleitung könne sich im Stadtrat ja auch nicht äußern. Der Antrag der Schulleiterin, ein besonderes Schulhaus zu bauen, sei ein Notschrei. Schließlich habe man in diesem Frühjahr 80 Mädchen abweisen müssen aus Mangel an Schulräumen. Das Angebot der Schule sei ein neuntes Schuljahr für Mädchen. Und eine solche Schule gehöre in die Stadtmitte. Man könne nicht warten, bis die Volksschulen das Steuerhaus wieder räumen würden.

Frau Wittmann schloss mit der Bitte, die Schule so bald als möglich zu bauen. – Drei Jahre später musste sie für die selbe Schule immer noch kämpfen.

Eine neue Wahlperiode beginnt

In den Kommunalwahlen, am 15. Dezember 1953, verliert die FDP / DVP von ihren fünf Sitzen zwei. Herta Wittmann hatten den Listenplatz 5, wurde aber mit der höchsten Stimmenzahl für ihre Fraktion wieder in den Stadtrat gewählt. Sie war jetzt nicht mehr die einzige Frau in diesem Gremium. Die „Freien Wähler“ hatten Ruth Nissen und die CDU Liesel Kirch zur Wahl in den Stadtrat verholfen.

Mitte der 50er-Jahre werden die Protokolle über die Sitzungen im Rathaus immer umfangreicher. Jetzt werden auch lange Reden wörtlich wiedergegeben. Es geht um die Verkehrsplanung Ehinger Tor, um den Aufbau des Hauptbahnhofes und die Gestaltung des Bahnhofvorplatzes. Als im Juni 1956 vorläufige Pläne für einen Theaterneubau besprochen werden, setzt sich Frau Wittmann für einen Standort in der Nähe des Bahnhofes ein, um auch Auswärtigen den Theaterbesuch leicht zu machen. Man kann die beiden Gymnasien, Humboldt und Kepler, einweihen. Der Bau von drei Hochhäusern am Eselsberg wird beschlossen. Besondern gefreut hat sie sicher der Beschluss, über der Ruine der Dreifaltigkeitskirche wieder ein Dach zu errichten.

Die Diskussion um die Frauenarbeitsschule entbrennt aufs Neue. Das Bauamt wird beauftragt zu untersuchen, ob beim Kornhaus die Möglichkeit für einen Neubau bestehe. Nun setzen sich die Ulmer Frauenverbände für einen Standort in der Stadtmitte ein, Herta Wittmann hält eine Rede im Stadtrat und ist diesmal erfolgreich. So kann, nach einem Gemeinderatsbeschluss im Jahr 1957, die Frauenarbeitsschule an den Weinhof zurückkehren.

Herta Wittmann wird im Jahr 1959 erneut in den Stadtrat gewählt

Nach den Kommunalwahlen im Jahr 1959 gehören dem Rat der Stadt Ulm 38 Personen an. Dr. Hans Lorenser ist jetzt Erster Bürgermeister. Die FDP-Fraktion hat wieder 5 Sitze, und wieder führt Frau Wittmann die Liste an. Die Ulmer Frauen hatten inzwischen wahrgenommen, wie lebhaft und erfolgreich sich diese Stadträtin für ihre Belange einsetzte.

Es fällt auf, dass nun nirgends mehr die Rede von Ruinengrundstücken in der Innenstadt ist, sondern über neue Baugebiete verhandelt wird. Am 7. Juni 1960 findet sich in den Protokollen der Sitzungen die letzte Eintragung einer Wortmeldung von Stadträtin Wittmann. Es sind – im Gegensatz zu den oft seitenlagen Äußerungen einige ihrer Kollegen – nur drei Zeilen:

Man müsse der Anlage neuer Dauerkleingärten, auch in Form eines Dauerkleingartenparks, mehr Augenmerk schenken. Damit setzte sich für die Wünsche vieler Flüchtlinge ein, die auch in der neuen Heimat wieder ein Stück Land bewirtschaften wollten.

Im Juli kam dann noch ein Beschluss zustande, an dem sie sich, nach ihren Erfahrungen mit dem enormen Straßenverkehr in Amerika, sicher lebhaft beteiligte. Es ging um den Ausbau der B 10, den Bau des Hindenburgringes am Ehinger Tor und die Verkehrsführung am Blaubeurer Tor.

Krankheit und Tod

Das Jungscharlager der Ulmer Kinder fand in jenem Sommer 1960 im Maintal statt. Frau Wittmann fuhr mit, um die Küche zu übernehmen. Sie hatte diese Aufgabe schon in früheren Jahren wahrgenommen und bemerkte nun mit einiger Sorge, dass ihr die Arbeit im Sommerlager noch nie derartig anstrengend erschienen war. Als man ihr dann auch noch versicherte, sie sähe sehr schlecht aus und müsse sich dringend in ärztliche Behandlung begeben, brach sie ihren Dienst mitten in der Lagerzeit ab und fuhr nach Hause.

Ihre jüngste Tochter Margret befand sich in dieser Zeit in der Ausbildung zur Krankenschwester. Sie fand den Zustand der Mutter sehr besorgniserregend und drängte auf eine gründliche Untersuchung. Dabei wurde eine akute myeloische Leukämie festgestellt, eine Krankheit, die damals nicht heilbar war, sondern nur durch Blutübertragungen in ihrem Verlauf aufgehalten werden konnte.

Und nun geschah das Unglaubliche: Nicht nur Menschen aus der näheren Verwandtschaft, sondern auch Freunde, Bekannte und Nachbarn spendeten unentgeltlich Blut. Aber selbst über fünfzig Blutübertragungen konnten die Krankheit nicht besiegen.

Etwa drei Wochen vor ihrem Tod wurde Herta Wittmann selbst klar, dass sie sterben würde. Im Krankenzimmer wurde das Abendmahl gefeiert.

Herta Wittmann blieb sich bis zuletzt treu. Sie hatte nie zurückgewandt gelebt, sondern immer nach vorne geschaut und so stellte sie sich der neuen Lage, sagte, was noch zu sagen war und regelte, was zu tun war, soweit es in ihrem Kräften stand. Sie ermahnte ihre Kinder, nur ja die Hochzeit der verlobten Tochter Ursel nicht wegen der Einhaltung eines Trauerjahrs hinaus zu schieben. Auch sollten sie nicht zuviel Geld auf den Friedhof tragen, sonders es eher den Lebenden zukommen lassen und nur ja kein ganzes Jahr in schwarzen Kleidern gehen.

Es war ihr wichtig, dass nicht gejammert wurde, sondern dass die Zukunft fest im Blick blieb, und so konnte sie über den Tod hinaus das Leben ihrer Familie mit gestalten. Dabei bedeutete es für die sterbende Mutter eine große Beruhigung, dass alle vier Kinder ihren Weg klar vor sich sehen konnten.

Am 9. Oktober ging das Leben dieser außergewöhnlichen Frau nach nur siebenundvierzig Lebensjahren zuende.

Bei der Beerdigung auf dem Ulmer Friedhof versammelte sich eine unüberschaubare Trauergemeinde unter dem Konfirmandenspruch, den einst Pfarrer Schmid seiner Tochter Herta auf den Weg gegeben hatte:

„Ich will mich freuen des Herrn und fröhlich sein in Gott, meinem Heil“ (Habakuk 3, Vers 18.). Der Prediger ließ noch einmal die einzelnen Stationen dieses Frauenlebens in besonders schwerer Zeit lebendig werden und schloss: „Es war ein Leben aus dem Dennoch des Glaubens“.

Die Angehörigen hatten sich gewünscht, dass auf Nachrufe der zahlreichen politischen, sozialen und bürgerlichen Gremien und Organisationen, in denen sich die Verstorbene engagiert hatte, verzichtet würde. Für sie alle sprach Oberbürgermeister Dr. Pfizer Worte des Gedenkens und des Dankes. Er würdigte besonders die Haltung und das Handeln von Herta Wittmann, das stets aus einem sehr kontrollierten Gewissen erfolgt sei. Darum bleibe die Verbundenheit mit ihr erhalten als Ausdruck des Dankes und der Liebe.

Fast zwei Jahre danach wurde mit einer Feierstunde das Kindertagheim im Neukirchenweg 70 nach der verstorbenen Stadträtin, die sich so sehr für diese Einrichtung eingesetzt hatte, benannt.

Es hieß fortan Kindertagheim Herta Wittmann.


Nachweise:

Quellen: privat sowie Stadtarchiv Ulm

Postkarte: Frauenbüro Ulm, Postkartenaktion „Frauen bewegen Ulm“ zu 100 Jahre Wahlrecht für Frauen, https://www.ulm.de/aktuelle-meldungen/obb/obb-fb/postkartenaktion-100-jahre

Foto: Stadtarchiv Ulm, Margarete Wittmann-Müller

 

Dieser Beitrag erschien erstmals in der 2004 veröffentlichten Publikation „Ulmer FrauenWege im 20. Jahrhundert. 12 Lebensbilder“ des Ökumenischen Arbeitskreis Frauen in Ulm, S. 65-75.


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