Elisabeth Daur

Stuttgart
1956-1968
GVP; SPD

Hochbetagt, humorvoll nachdenklich und kritisch unaufgeregt, beginnt Elisabeth Daur, die am 26. Feburar 1899 in Altenburg / Tübingen als Elisabeth Aline Dorothea Dipper in einem Pfarrhaushalt zur Welt gekommen ist, ihre 38-seitigen maschinengeschriebenen „Erinnerungen der Neunzigjährigen“ mit den Worten:

„Mein Leben hat sich im Zentrum des Schwabenlandes abgespielt, im Reutlinger und vor allem im Stuttgarter Umkreis. Und über Europa und den Nahen Osten bin ich nie hinausgekommen. Mit etwa 12 Jahren war ich stolz, bei einem Ausflug nach Wimpfen am Neckar zum erstenmal „im Ausland", in Baden, zu sein: mit 15 Jahren sah ich das erste Meer, nämlich das Schwäbische, den Bodensee. Ist man 90 Jahre alt, so ist einem außer den selbsterlebten Jahren durch die Erzählungen von Eltern und Großeltern auch das davorliegende Jahrhundert weithin lebendig gegenwärtig.“

Doch dann folgert sie weiter, dass „im 19. Jahrhundert die großen Veränderungen des täglichen Lebens einsetzten. Die Aufklärung war von der Bildungsschicht ins Volk eingedrungen und setzte schöpferische Kräfte frei. Die Jugend, die sozial Benachteiligten, die Frauen fingen an, sich gegen die allmächtigen ,Väter‘ zu wehren - Bewegungen, die bis heute nicht mehr zur Ruhe gekommen sind.“

Sie erzählt von ihren Vorfahren, „die Juristen, Pfarrer, Lehrer, aber auch Weber, Schmiede und Grafen gewesen waren und dass die Kinder die Eltern mit ,Sie‘ - Herr Vater, Frau Mutter – anzureden hatten“ und beklagt, dass eine streng patriarchalische Ordnung und Prüderie in allen Kreisen selbstverständlich war: „Zwischen Eheleuten bestimmte der Mann allein über die Verwendung des Einkommens wie auch noch bei ihren Eltern. Der Vater verdiente das Geld und musste als der Ernährer der Familie auch besonders gepflegt werden.“ Wie ihrem zwei Jahre älteren Bruder Eugen wurde aber ihr selbst und ihren beiden viele Jahre jüngeren Schwestern Margarete und Helene ganz gegen die gesellschaftliche Tradition selbstverständlich Bildung vermittelt. Ihrem Vater (Karl) Eugen Dipper (1866 – 1951) war es wichtig, dass jede seiner Töchter eine Berufsausbildung er hielt. Ihre Mutter Ottilie Helene Sophie Dipper, geb. Steinheil (1871 – 1952) war wohl damit einverstanden.

Da Eugen Dipper 1903 als 2. Pfarrer nach Stuttgart in die Martinskirche berufen worden war, deren 1. Pfarrer Otto Umfrid (1857 – 1920) der Gründer der Deutschen Friedensgesellschaft war, durfte Elisabeth in Stuttgart das 1818 gegründete Königin-Katharina-Stift besuchen. An jedem Schultag hatte sie mindestens zweimal den halbstündigen Schulweg zu Fuß durch die „Anlagen“ in die Schillerstraße zu meistern.

Sie betont in ihren Erinnerungen, dass vor der württembergisch-russischen Königin sich ja keiner um Mädchen, und das schon gar nicht in ländlichen Gegenden gekümmert hätte. Da am Stift nur die mittlere Reife abgelegt werden konnte, besuchte sie in Stuttgart danach das 1899 von Gertrud Schwend-Uexküll gegründete private "Erste württembergische Mädchengymnasium" mit humanistischem Abitur für Mädchen, das heutige Hölderlin-Gymnasium, das zu Elisabeth Daurs Schulzeit „Königin-Charlotte-Gymnasium“ hieß. Mit neunzehn Jahren bestand sie 1918 kurz vor dem Ende des Ersten Weltkriegs die Abiturprüfung an einem externen Jungengymnasium, wie das damals für die kleine Zahl der zu examinierenden Schülerinnen üblich war.

Drei Monate lang unterrichtete sie danach als Hauslehrerin die drei Söhne Berthold, Alexander und den jüngsten, Claus, der Familie von Stauffenberg, die zur Großfamilie ihrer Schulgründerin gehören. Im Landschloss der Familie in Lautlingen sollten sie während der „Evakuierung“ und dem Verlust der Dienstwohnung im Akademiegarten des Alten Schlosses während der Revolutionswirren nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Abschaffung der Monarchie auf dem Stand des von ihnen schon vorher besuchten Eberhard-Ludwig-Gymnasiums gebracht werden. Die Eltern Alfred Schenk Graf von Stauffenberg (1860 – 1936) und seine Ehefrau Caroline geb. Gräfin von Uexküll-Gyllenband (1875 – 1956) hatten ihre Dienstwohnung im Alten Schloss im Akademiegarten nach der Abdankung Wilhelms II. und Königin Charlotte räumen müssen. Ihre neue Wohnung in der Jägerstraße wurde noch umgebaut. Dort wohnte der frühere Oberhofmarschall Graf von Stauffenberg noch bis zu seinem Tod. Die Jahrhunderte währende Familientradition der von Stauffenbergs war zu Ende. Sie waren als Dienstadel mit der Geschichte der Regierenden Württembergs verbunden. Doch jetzt regierte das Volk und Alfred von Stauffenberg war nur noch für die Regelung der königlichen Besitzverhältnisse verantwortlich.

Elisabeth Daur vermittelt in ihren Erinnerungen ein bewegendes Bild dieser Familie: „Ich habe die Stauffenberg-Uexküll-Familie sehr schätzen gelernt, in der ,Adel verpflichtet‘ lebendiger Wahlspruch war, wie die Brüder Klaus und Berthold später mit ihrem Leben und Sterben bewiesen haben.“

1919 begann sie als zweite jemals immatrikulierte Studentin einer evangelisch-theologischen Fakultät ihr Studium der Theologie in Tübingen. Erst 1904 war das Studium für Frauen in Württemberg vom König genehmigt worden. Nach einem Jahr brach sie es ab, um 1921 mit 21 Jahren den damaligen Jugendpfarrer Rudolf „Rudi" Daur (26.1.1892 in Korntal - 17.6.1976 in Stuttgart) zu heiraten. Eine andere Entscheidung war für sie undenkbar.

Zu ihm zog sie als Pfarrersfrau nach Reutlingen und 1932 nach Stuttgart, wo er nach einer ersten Pfarrstelle in Rohr in der Markusgemeinde der Nazidiktatur widerstand. Von 1939 bis zu seinem Ruhestand 1962 hat er als 1. Stadtpfarrer die Gemeinde der Markuskirche betreut. Seine Frau dazu in ihren Erinnerungen: „Ich bin heute noch überzeugt, daß er auf dieser Stelle erst zu seiner vollen Wirkung gekommen ist, so schwer die Kriegsjahre dort waren und so viel die 12.000 Seelengemeinde forderte, die er bald allein zu versehen hatte“.

Der 1922 geborene Sohn Fritz Martin fiel als gerade promovierter Absolvent des Evangelischen Seminars Urach am 24.12.1941 in Russland. Ihre Tochter Heidi Renate (1925 – 2021) studierte nach dem Krieg Musik und arbeitete als Rhythmiklehrerin. Sie heiratete1950 den Pfarrer Jörg Zink (1922 – 2016), der später das landeskirchliche Rundfunk- und Fernsehpfarramt übernommen hat.

1961 zogen die Daurs nach Möhringen in die Fleischhauerstraße 7. Dazu schreibt sie: „Es gelang, das elterliche Erbe von uns drei Schwestern so zu teilen, daß auf meinem Anteil, dem Baumgrundstück, Zinks 1964 bauen konnten; für Rudi und mich war es ein ganz unverhofftes und unschätzbares Geschenk unseres Alters, die Kinder so nah zu haben und die Enkel Christoph, Angela, Monika und Cordula aufwachsen zu sehen“, und: „Wenn ich bedenke, wie viel mehr meine Enkel technisch und wissenschaftlich beherrschen als ich, vom Auto bis zum Computer und der lebendigen Mehrsprachigkeit, so ist es phantastisch zu denken, daß es ihnen mit ihren Enkeln auch so gehen mag! Sofern der Menschheit die große Katastrophe erspart bleibt, wird es wohl so sein.“

Friedensengagement Nazidiktatur – Zweiter Weltkrieg

Elisabeth Daur beschreibt die Konstanten ihres Lebens eindringlich: „Eines aber hat meines Mannes und mein Leben seit jenen Jahren entscheidend bestimmt: Die Erfahrung der beiden leidvollen Kriege. Der erste hat ihm drei Brüder und mir den Jugendgeliebten, der zweite uns den Sohn genommen. Bei dem Abstand von 25 Jahren war häufig die nächste Generation derselben Familie wieder von Verlusten betroffen.“ Der Anfang des Ersten Weltkriegs gilt für sie als „Gründungsdatum des Internationalen Versöhnungsbunds, der nach Kriegsende 1918 sogleich zusammen mit amerikanischen Freunden wieder aktiv wurde und dem wir beitraten. Seither war die Arbeit für den Frieden ein Leitmotiv unseres Lebens. Als Schweizer Frauen unter der Führung von Mathilde Lejeune für eine Eingabe an den neu geschaffenen Völkerbund Stimmen sammelten, mit dem Ziel einer internationalen Friedensordnung, taten wir in Reutlingen dasselbe und schickten unsere Stimmen mit ein.“

Sie stand stets an der Seite ihres Mannes, der als Mitglied des Deutschen Zweigs des Versöhnungsbundes und bei „all den vielen Vereinigungen, in denen er mitgründend, mitarbeitend oder leitend unermüdlich tätig war“. Auch als Mitglied des Bundes der Köngener Gemeinschaft, der er von 1938 bis zu seinem Tod 1976 vorstand, sei bei „aller speziellen Zielsetzung als Unterströmung das Streben nach Frieden und Verständigung richtungsweisend gewesen“, auch in der Verbindung mit engen international tätigen Gesinnungsfreunden, hier besonders später auch mit dem Pariser Pasteur Henri Roser (1899-1981), dem Vertreter des französischen Versöhnungsbundes.

Doch der demokratische Aufbruch der Weimarer Republik voller Friedensarbeit und -sehnsucht ist dem Untergang nahe. Die hellsichtige Pfarrfrau notiert, dass schon vor 1933 „die Bespitzelung der Pfarrer, die Behinderung ihrer Tätigkeit, das Verbot der kirchlichen Jugendarbeit begann. Zusammenkünfte mehrerer Personen waren nur bei Bewirtung erlaubt, ich kochte Massen von Tee für Bibel- und Ausspracheabende im Pfarrhaus.“ Und stellt fest, dass „der Brief von Daur, Umfrid und Pfäfflin an den Kirchenpräsidenten Wurm vom Mai 1933 in Sachen Juden und Vernichtung lebensunwerten Lebens historisch geworden ist, wie auch ein späterer von 1939.“

Die Gefährdung der Eheleute war immer gegenwärtig und blieb präsent. Aber dennoch: „Wir müssen einen besonderen Schutzengel gehabt haben, daß Rudi im großen ganzen außer zahlreichen Verhören unbehelligt blieb.“

Die Stadträtin

Auch nach 1945 schien ihr die Arbeit für Frieden und Versöhnung noch oft hoffnungslos, besonders dann als Gustav „Heinemanns Rücktritt aus Protest gegen Adenauers Wiederbewaffnung der Bundesrepublik ihr Ziel nicht erreichte. Seiner 1952 gegründeten Protestpartei GVP (Gesamtdeutsche Volkspartei) trat ich damals sofort bei, was mich Jahre später zur Kommunalpolitik führte.“

1956 wurde sie als Mitglied der GVP in den Stuttgarter Gemeinderat gewählt. Die Partei löste sich aber wegen geringer Wahlerfolge 1957 wieder auf. Sie berichtet: „Meine Stadtratszeit reichte von 1956 bis 1968 über zwei Wahlperioden, für eine dritte stellte ich mich nicht mehr zur Verfügung, um Rudi nicht immer so oft allein lassen zu müssen. 1956 wurde ich überraschend und mich zunächst erschreckend als einzige Vertretung von Heinemanns Gesamtdeutscher Volkspartei (GVP), deren Mitglied ich war, gewählt (Rudis Name in Stuttgart!), war drei Jahre Gast bei der SPD-Fraktion und trat dann, wie Heinemann selbst, der SPD bei. Meine Aufgaben hatte ich vor allem im Sozialausschuß, den verschiedenen Krankenhaus-, Jugendwohlfahrts- und Schulbeiräten und dem Theaterbeirat sowie den zahlreichen Sprechstundenfällen, bei denen es damals vor allem um Wohnungsnöte ging. Da die 34 Ämter einen Stadtrat nicht abweisen dürfen, konnte man öfters eine Lösung finden. Da man stellvertretend auch in allen anderen Ausschüssen herumkommt, wird einem die Stadt vertraut, ja anvertraut, man gewinnt ein persönliches Verhältnis zu ihr. 1964 wurde ich in Möhringen gebeten, einen bürgerschaftlichen, überparteilichen und überkonfessionellen Frauenkreis aufzubauen und zu leiten und mußte das pflichtgemäß tun. Rudi hat mir durch sein Büro und beim Austragen etc. viel geholfen, war immer dabei bei den Veranstaltungen und meinte, der Möhringer Frauenkreis (MFK) habe uns in Möhringen erst richtig heimisch gemacht. Für mich kam die neue Aufgabe 1956 genau zum richtigen Zeitpunkt. Wohl oder übel mußte ich nun etwas kontaktfähiger werden und meine Sache öffentlich vertreten, auch im Markusfrauenkreis davon erzählen, was mir alles von Haus aus gar nicht lag. Die Nervosität hat mich nie ganz verlassen, aber die Sicherheit ist doch allmählich gewachsen.“

Von 1968 bis 1975 war sie dann noch in Möhringen Bezirksbeirätin. Ihr kommunalpolitisches Engagement und ihre Mitarbeit in der Friedensbewegung waren die Begründung für die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes am Bande im Jahre 1980.

Bis ins hohe Alter ist es ihr höchstes Anliegen, „Verständigung und Kompromiß statt Gewalt, Verantwortung der Starken, Mächtigen, Besitzenden für die Schwachen, Unterdrückten, Armen, zu unterstützen, wo wir können. An dem enormen Drängen nach neuen Erkenntnissen auf wissenschaftlichem wie technischem Gebiet nimmt die Kirche nicht teil, leider.“

Bis zu ihrem Tod am 28. Dezember 1991 in Stuttgart setzte sie so ihren festen Glauben gegen jegliches Dogma.

Autorin Mascha Riepl-Schmidt

Dr. Christoph Zink und seinen Schwestern Dr. Angela, Monika und Cordula danke ich herzlich für ihre unterstützende biographische Zuarbeit.


Bildnachweis: Foto von 1965: Archiv der Familien Zink.

Literatur und Quellenhinweise

Elisabeth Daur, geb. Dipper, Erinnerungen der Neunzigjährigen. Manuskript im Familienarchiv Zink. Stuttgart 1989. E. D.s Orthographie wurde nicht verändert.

Peter Hoffmann, Claus Schenk von Stauffenberg und seine Brüder, Stuttgart 1992.

Mascha Riepl-Schmidt, Die ersten 40 Jahre des Hölderlin-Gymnasiums, in: 100 Jahre Hölderlin-Gymnasium, Hölderlin-Gymnasium Stuttgart (Hg.), Stuttgart 1999, S. 21-47.


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